Von Kisten, Explosionen und Wollmützen. Zu den Arbeiten von Roman Signer

Jan Winkelmann

St. Gallen 1972. Roman Signer steht in seinem Atelier auf einer 44 cm hohen Holzkiste und springt auf einen mit feuchtem Lehm gefüllten Kasten. Die nackten Fußsohlen hinterlassen im Lehm zwei Abdrücke, die als Selbstbildnis aus Gewicht und Fallhöhe, gleich einem Grundstein, den Ausgangspunkt seines späteren Schaffens bilden.

Amsterdam 1995. Roman Signer steht in der De Appel Foundation wieder auf einer ca. 40 cm hohen Holzkiste. Diesmal nicht mit nackten Füßen, dafür trägt er auf seinem Kopf eine Wollmütze, die mit einer Schnur an der Decke des Raumes befestigt ist. Mehrere kleine Explosionen bringen die Kiste zum Einstürzen. Die Seitenwände werden durch die Kraft der Feuerwerkskörper in den Raum geschleudert. Der Künstler steht nach dem Einsturz der Kiste auf dem Boden. 40 cm über seinem Kopf befindet sich immer noch die Wollmütze, gleichsam eine Markierung der Ausgangshöhe. Er verläßt den Ort des Geschehens, die Überreste der Aktion verbleiben als Skulptur Explosion, Kiste mit Kappe im Ausstellungsraum.

Obwohl beide Arbeiten in der Verwendung der Materialien und dem Ablauf der Handlung gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, sind sie nur indirekt miteinander vergleichbar. Anhand der Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Arbeiten seien im folgenden die Grundbegriffe des künstlerischen Konzeptes von Roman Signer erläutert.

Im Selbstbildnis aus Gewicht und Fallhöhe sind bereits die wesentlichen Elemente seines späteren Schaffens im Kern enthalten: Prozeßhaftigkeit, Transformation, einfache Materialien, die vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser. Diese bilden als integraler Bestandteil jeder Arbeit das Grundgerüst von Signers künstlerischem Konzept und werden im Laufe der Jahre nur geringfügig verändert, bzw. erweitert.

Als Ausgangspunkt für das Selbstbildnis dient, wie in vielen späteren Arbeiten auch, der Körper des Künstlers, der hier selbst jedoch nicht sichtbar ist. Im Gegenteil, lediglich der von dem Körpergewicht im feuchten Lehm hinterlassene Abdruck verweist als Resultat auf die vorangegangene Anwesenheit des Körpers. Dieser ist nur mittelbar, im wahrsten Sinne des Wortes, als Spur präsent. Der Künstler visualisiert somit die physikalische Abwesenheit, die Nicht-Präsenz seiner selbst. Einerseits ironisiert er das Selbstbildnis, als traditionelles Motiv der Kunstgeschichte, erweitert diesen Begriff aber gleichzeitig.

Ein weiteres Element seines künstlerischen Konzeptes, das im Selbstbildnis bereits vorhanden ist, aber erst in späteren Arbeiten in aller Deutlichkeit ausformuliert wird, ist die Prozeßhaftigkeit. Wo hier nur ein Endresultat, das Ergebnis eines vorangegangenen Prozesses, sichtbar ist, werden in Explosion die vorausgehenden Werkphasen mit eingeschlossen. Im wesentlichen lassen sich Signers Arbeiten in drei aufeinanderfolgende Phasen unterteilen. Den Ausgangspunkt und somit die erste Phase bilden die Konzeption, die Vorbereitung und der Aufbau des möglichen Ereignisses. Die verwendeten Materialien werden gleich einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung in ihre "Ausgangsposition" gebracht. Das ihnen innewohnende Energie- und Veränderungspotential ist in dieser Phase von zentraler Bedeutung. In der zweiten Phase, dem eigentlichen Transformationsprozeß, wird die Werkanlage infolge einer Initialisierung, die in der Regel vom Künstler selbst ausgeht, verändert. Die Relikte der Zustandsveränderung, als dritte Stufe, beinhalten den vorausgegangenen Prozeß. Vereinfacht gesprochen werden in den drei Phasen die verwendeten Werkmaterialien von einem statischen über einen dynamischen wieder in einen, jedoch veränderten, statischen Zustand überführt. Alle drei Werkphasen werden als autonome und gleichwertige Skulpturen verstanden. Für den Betrachter ergeben sich innerhalb dieses dreistufigen Prozesses unterschiedliche, voneinander unabhängige, Erfahrungs- und Erlebnismomente. In der Werkanlage kann er deren potentielle Ereignishaftigkeit gedanklich im voraus durchspielen, wohingegen der eigentlichen Moment der Transformation vom Ereignis an sich geprägt. Die Relikte ermöglichen es, beide vorangegangenen Phasen, auch wenn diese selbst nicht miterlebt wurden, im Geiste nachzuvollziehen.

Um auf die eingangs erwähnten Beispiele zurückzukommen: Wo im Selbstbildnis lediglich das Resultat der vorausgegangenen Handlung zu sehen ist, wird diese in Explosion als werkimmanent mit eingeschlossen. Erst ab 1981 tritt Signer selbst in seinen Arbeiten in Erscheinung. Obwohl er stets mittelbar, als Anstoßgeber und auslösender Faktor, den Prozeß initialisierte, blieb er selbst stets "unsichtbar". Diese physische Präsenz entwickelt sich schrittweise, wobei die Filme, mit welchen Signer seine Arbeiten dokumentiert eine wichtige Rolle zukommt. Im Laufe der Jahre sind in diesen immer häufiger zufällig aufgenommene Körperteile Signers, meistens Hände die den Transformationsvorgang auslösen, zu sehen. Dies führt im Laufe der Jahre allmählich dazu, daß der Körper selbst "als Arbeitsmaterial" eingesetzt wird und ganz in Erscheinung tritt. Die Filme sind über die Physikalität des Werkes hinaus, Teil der Arbeit und oftmals deren einzige Dokumentation. Sie können somit, gleich einem Relikt des Reliktes, als eine vierte Stufe des oben beschriebenen Prozesses gesehen werden.

Wie in beiden exemplarisch angeführten Arbeiten zu sehen ist, sind Signers Arbeitsmaterialien nicht nur denkbar einfach, neben den vier Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde, sind dies insbesondere Alltagsgegenstände wie Eimer, Holzkisten, Fässer, Schnüre, Luftballone etc., sondern auf nicht mehr als ca. 30 Gegenstände beschränkt. Diese sind alle, einmal mehr einmal weniger, mit der Lebensgeschichte, der Erfahrungs- und Erlebniswelt Roman Signers verbunden. Wie die Buchstaben des Alphabets werden sie in immer neuen Variationen und Konstellationen zusammengeführt und kombiniert, woraus sich unendlich viele verschiedene Kombinationsmöglichkeiten ergeben, die sich jedoch alle durch formale Einfachheit und inhaltliche Klarheit auszeichnen.

Infolge der Beschränkung auf ein limitiertes Repertoire an Werkstoffen ist es nicht ausgeschlossen, daß einige Arbeiten formale Ähnlichkeiten mit anderen aufweisen. Explosion ist in diesem Sinne "verwandt" mit Zipfelmütze mit Rakete (1983/34), bei der Signer eine Zipfelmütze, die durch eine Schnur mit einer Rakete verbunden ist, durch die gezündete wegfliegende Rakete vom Kopf gerissen wird. Ebenso wie Aktion mit einer Kiste (1992), wo dem Künstler, der auf einer Holzkiste steht, diese unter den Füßen weggesprengt wird. Doch ein Vergleich dieser Arbeiten mit Explosion hält nur auf formaler Ebene stand. Wo in der einen Arbeit die Mütze vom Kopf weg ins, metaphorisch gesprochen, Unendliche fliegt, verbleibt sie bei der anderen in der selben Position, auf gleicher Höhe, und dient so dem Betrachter als Maßstab seiner eigenen Körperlichkeit.

Bei einem Vergleich von Aktion mit einer Kiste und Kappe mit Aktion mit einer Kiste sind weniger Unterschiede festzustellen, wenn man die Betrachtung lediglich auf die Explosion einer Kiste, auf der der Künstler steht, beschränkt. Beider Arbeiten inhärente Assoziationsmöglichkeiten von Stabilität versus Labilität, einem bildnerischen "auf den Boden der Tatsachen zurückkommen" des Künstlers, der Künstler auf einem Sockel, als Skulptur seiner selbst, etc. sind auf sich alleine bezogen denkbar. Doch ist bei Explosion die Kiste nur ein Teil des Ganzen, das durch die übrigen Elemente eine Erweiterung der Assoziationsebenen erfährt. Die augenfällige Assoziation mit einer stilisierte Hinrichtung oder Selbsterhängung des Künstler mag hier, ob vom Künstler als solche intendiert oder nicht, der Arbeit einen durchaus zynischen Unterton verleihen. Solch spielerische Assoziationen scheinen dem Künstler jedoch nicht unwillkommen, wenn er sagt: "Man sollte mich nicht so hermetisch betrachten." Wenn hingegen, wie unlängst geschehen, ein deutscher Showmaster Roman Signer einlädt, im Showteil seiner Sendung der singenden Tina Turner eine Kiste unter den Füßen wegzusprengen, ist ein derartiges reduzieren von Signers Werk auf bloßes Spektakel vielleicht doch ein klein wenig zu wenig hermetisch.

veröffentlicht in: Performance Index, hrsg. von Heinrich Lüber und Karin Roth, Basel 1995
und in englischer Sprache in: Shift, Ausst. Kat. De Appel Foundation, Amsterdam 1995

© 1995 Jan Winkelmann

Englische Übersetzung

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